Lara schnuppert an der Erde, die ihr Simon unter die Nase hält. Seine Hände formen eine Schale für die lockere Masse, in der Reste von Blättern, Zweigen und Eicheln zwischen den fast schwarzen Krümeln liegen. „Hmmm“, Lara lacht ihn an. Simon bringt seine eigene Nase dem Gemisch nahe. Es riecht massiv, dunkel, alt, wirklich gut. Sie strahlen sich an. „Nochmal!“ Lara führt seine Hände zu ihrem Gesicht. Simon hebt bedeutungsvoll seine Hände. Nachdem sie kurz, aber demonstrativ die Nase hochgezogen hat, erneut begeistert, steht er auf: „Na, dann!“ Unter einem großen Stein findet er Laub, das den ganzen Winter vor sich hin gemodert hat und das riecht nun wirklich abenteuerlich. „Und das hier?“ Laras Nase wandert nach unten. Sie zuckt kurz zurück, aber dann strahlt sie ihn wieder an. Sie weiß nicht genau, aber die Nase siegt: „Oh jee.“
Simon schnüffelt solidarisch, schüttelt sich, sie schütteln sich beide und lachen.
„Komm, wir machen ein Spiel……….Du musst die Augen zu machen und ich stelle Dich einem Baum vor, o. k.“
„Wenn er nett ist..“
„Ja, ich suche Dir einen netten Kerl raus.“
Simon führt sie zu einer kleinen Eiche, die etwa so dick ist wie Lara, wenn denn Lara ein Baum wäre.
„Du musst dem Baum die Hand geben und `guten Tag´ sagen!“
Er biegt einen Zweig herab und gibt ihn Lara in die Hand. Lara ist ein wenig schüchtern, der Baum könnte groß sein, auch wenn er so kleine Ärmchen hat.
„Guten Tag, Herr Baum!“
„Weißt Du, der Herr Baum ist ein ganz netter, nur ein bisschen schweigsam. Aber Bäume darf man anfassen, schau mal, wie er sich anfühlt. Aber lass die Augen zu, sonst geht das Spiel nicht!“
Lara stupst den Baum mit den Fingerspitzen, dann wird sie mutiger. Sie legt die Hände an ihn, entdeckt Astlöcher, einen kleinen Zweig, ein Blatt und die Furchen.
„Ist der Baum schon alt?“ fragt sie.
„Naja, schon älter als Du, aber viel jünger als ich“, antwortet Simon.
„Hmmm. Aber er fühlt sich alt an.“
„Tja, Bäume sind immer draußen, das tut ihrer Haut nicht gut.“
„Also dann will ich nicht so viel draußen sein.“
„Oh, na weißt Du, das ist kompliziert. Wenn man ab und zu draußen ist, wird die Haut schön weich, weil es draußen feucht ist und der Wind einen streichelt, aber bei der Sonne muss man ein bisschen aufpassen.“
„Aber der Baum steht doch im Wald.“
„Ja, schon, naja, aber er schläft nie und das ist auch wichtig für die Haut. Er steht immer rum.“
„Er schläft nie?“
„Naja, kannst Du im Stehen schlafen?“
Lara lacht: „Nicht so richtig, nee, nee. Armer Baum, musst Du müde sein!“
Sie streichelt ihn nun ganz unbefangen und legt ihre Wange an ihn.
„O. K. Nun hast Du ihn kennengelernt. Sag ihm mal `Tschüss´, aber ich verspreche Dir, Du siehst ihn wieder.“
„Tschüss, aber ich hab ihn doch gar nicht gesehen.“
„Ich meine, wir kommen wieder zu ihm, lass die Augen noch zu!“
Simon führt Lara von dem Baum weg und ein bisschen in der Gegend herum.
„So, jetzt kannst Du die Augen wieder aufmachen.“
Lara macht die Augen auf, ist ganz ernst.
„Schau dahinten steht Dein Baum.“‘
Simon zeigt auf einige Bäume in etwa zehn Meter Entfernung.
„Aber da stehen doch viele!“
„Eben! Wir gehen jetzt hin und Du schaust, ob Du Deinen Baum wiederfindest! O. k.?“
„Wie denn?“
„Du berührst ihn wieder und schaust, ob Du ihn dabei wiedererkennst.“
„Darf ich auch mit ihm reden?“
„Klar, wenn Du meinst, dass das Dir hilft.“
Lara geht auf die Bäume zu.
„Wer kennt mich?“ ruft sie.
„Hej!………..Ihr seid nicht nett!“
Sie beginnt, sie abzutasten und dann macht sie die Augen wieder zu. Es ist gar nicht so einfach. Dann entdeckt sie an einem Baum ein Stück, an dem die Rinde fehlt. An dieser Stelle ist das Holz porös und hat einige tiefe Löcher.
„Dich kenne ich! Gib mir mal Deine Hand!“
Simon biegt ihr denselben Zweig herunter wie beim ersten Mal. Er ist dünn und hat schon viele Knospen.
„Du piekst, ich kenn Dich. Hallo!“
„Du hast ihn“, sagt Simon, „geben wir ihm einen Namen?“
„Auja, hmmm………..Stachelschwein.“
„Findest Du, er sieht so aus?“
„Nein, aber fühlt sich an wie ein Stachelschwein.“
„Woher weißt Du wie sich ein altes Stachelschwein anfühlt.“
„Hab ich im Zoo gesehen!“
Sie schauen sich an und lachen gleichzeitig.
„Komm, wir verabschieden uns vom Stachelschwein und setzen uns in die Sonne“, schlägt Simon vor.
Ein Platz ist schnell gefunden. Sie setzen sich unter einen kleinen Felsen, an den sich Simon behaglich anlehnen kann.
„Du bist ein Baum!“ sagt Lara. „und ich mach die Augen zu.“ Dann tastet sie seine Gesichtszüge ab, das heißt eigentlich betupft sie seine Augen, die Nase, die etwas stoppligen Wangen, die Ohren. Simon schließt auch die Augen und er riecht ihren Atem, der immer milchig zu bleiben scheint und spürt ihren kleinen Körper, der sich an seine Brust lehnt. „Jetzt mach ich die Augen auf!“ sagt er schließlich.
„O. k. Augen auf.“
„Du bist es!“
„Tja, das war nicht so schwer.“
„Doch, Du siehst ja gar nicht aus wie ein Baum. Und du bist auch viel weicher. Aber auch pieksig!“
Simon drückt sie an sich.
Dann öffnet er seinen Rucksack:
„Mal sehen, was wir mitgebracht haben.“
„Du!“
„Ja, o. k. ich. Also: Radieschen, zwei Stullen, mit……..Kinderkäse.“
„Kinderkäse für Dich! Lustig.“ Simon beißt hinein.
„Mhm, schmeckt nach nix, aber dafür gut. Und………….“ Er öffnet eine Tüte: „Was haben wir denn da? ……….Regenwürmer!“
„Iiih, zeig!“
„Ach, die haben ja weiße Punkte……“
Lara grabscht sich die Dose:
„Stimmt ja gar nicht, das sind doch Salzstangen.“
„Ach so, na gut, dann nehmen wir halt die.“
Lara blinzelt Simon an. Simon kramt noch eine Plastikflasche hervor:
„Und: Apfelsaft mit Sprudel: Graneberger! Selbst gemixt, wunderbar!“
Sie essen und Simons Gedanken triften davon. Lara Blick erinnert ihn an Florian, der Sprudel erinnert an ihn, der Platz an dem Felsen erinnert an ihn. Als hätte sich nichts geändert in den letzten 30 Jahren. Der Vorfrühling ist ein Vorfrühling, der Fels ist nicht verwittert. Nur bei ihm sind die Erinnerungen hinzugekommen. Lara scheint Gedanken lesen zu können:
„Wo ist mein Papa?“
„Dein Papa ist in Amerika.“
„Ich weiß und das ist weit weg, da muss man ein Flugzeug haben.“
„Ja, das haben wir leider nicht.“
„Aber er hat ja auch sowieso keine Zeit, sagt Mama.“
„Bestimmt nicht, sonst wäre er jetzt hier bei uns.“
„Wann kommt er denn?“
„Ich glaube in zwei Wochen.“
„Ist das lange?“
„Schwer zu sagen, für Dich vielleicht schon, für mich nicht so lange.“
„Ich will, dass er bald kommt.“
„Da sind wir schon zwei………….Aber jetzt sind wir ja auch nicht alleine und zu Hause wartet Sabine auf uns.“
„Gehen wir nach Hause?“
„Ja, so langsam.“
Simon schaut auf den kleinen Bach in dem schattigen Tal unter ihnen. Dort unten haben sie häufig einen Staudamm gebaut. Florian schleppte immer mit großem Eifer Äste und Steine heran und sie gaben sich alle Mühe, ihre Konstruktion mit Blättern, Moos und Erde abzudichten. Es reichte immer für einen kleinen Tagessee.
Sie klettern hinab, aber Simon ist nicht nach Staudammbauen. Lara möchte ganz hinunter und in dem Bach laufen. Simon klettert hinunter und hilft ihr die kleine Böschung hinab. Der Bach ist auch für Laura höchstens knietief.
„Von mir aus“, sagt Simon, „aber das Wasser ist noch sehr kalt.“
„Macht mir nichts.“
Simon denkt an Sabine. Wäre sie hier, hätte sie Angst, dass sich Lara erkälten könnte. Simon fühlt sich mit Lara befangener als früher mit seinen eigenen Kindern. Es liegt nicht nur an den Eltern, er ist auch ängstlicher geworden, seine Haut dünner. Er hilft Lara aus den Schuhen und Strümpfen und krempelt ihre Hose ganz hoch. Dann nimmt er sie an die Hand und stellt sich auf zwei Steine im Wasser, in das Lara nun hineinsteigt. Sie schreit auf, es ist wirklich noch kalt, und dann beißt sie die Zähne zusammen und läuft ein paar Schritte. Es ist glatt und Simon muss sie immer wieder hochziehen, wenn ihr die Füße wegrutschen. Bald reicht es Lara, sie will raus. Sie setzt sich am Rand auf einen Stein und schaut stolz auf ihre rosa Füße:
„Schau mal, meine Füße sind rosa geworden!“
„Dann werden wir sie mal wieder einpacken!“
Simon hat seinen Pullover ausgezogen, trocknet Laras Füße und reibt sie warm. Die kleinen Füße sehen aus als seien sie aus Porzellan und man dürfe gar nicht auf ihnen laufen. Sie fühlen sich aber an wie feuchter Lehm und man kann sie kneten und biegen als seien gar keine Knochen in ihrem Inneren. Er hilft Lara wieder in Socken und Schuhe. Soll er ihr sagen, dass sie das zu Hause nicht erzählen soll?
Sie haben noch eine Weile zu laufen. Simon kennt die Strecke sehr genau, nicht nur von seinen Spaziergängen mit Florian. Auch alleine ist er hier oft unterwegs. Morgens früh zum Beispiel, wenn er nicht mehr schlafen kann. Dann schüttelt er die dunklen Gedanken der Nacht ab, quält sich hinaus ins Dämmerlicht. In der Atmosphäre des Morgens besänftigen sich seine abschiedsschweren Gefühle. Manchmal verspürt er eine kleine Dankbarkeit, manchmal ein kurzes Glück wie vor wenigen Wochen als er einen Fuchs traf. Er lief schnurstracks in mittlerem Tempo durch den Wald, etwa 20 m von ihm entfernt in die entgegengesetzte Richtung. Der Fuchs sah ihn an, ohne zu beschleunigen. Er atmete den Duft des Harzes ein, den er von einem gefällten Baumstamm rieb, entdeckte ein paar Waldanemonen hinter einer Buche, blickte über die Rheinebene, in der so viele Episoden seines Lebens spielten. Auf solche Momente treiben also die Nächte zu.
Es wird anstrengend für Lara. Simon hebt sie auf seine Schultern und geht unwillkürlich vorsichtiger. Er hält ihre Füße, sie greift in sein Haar.
„Weißt Du was?“, sagt Simon, „wenn wir aus dem Wald kommen, gehen wir ein Eis essen, ja?
„Jaaa!“ Sie strampelt mit den Füßen so gut es in Simons Händen geht und haut ihm auf den Kopf, „lauf, Pferdchen, lauf!“
Simon trabt ein wenig an, das Kind ist schwer. Eine halbe Stunde später sitzen sie im Eiscafé.
„Und was möchtest Du?“
„Himmelblau!“
„Was soll das denn sein?“
„Eis doch, was denn sonst?“
Die Farben von Laras strahlenden Augen. Der Opa hat keine Ahnung.
Simon liest in der Eiskarte unter „Sorten“. Aha, das gibt es tatsächlich, Himmelblau, mit Sternchen, das heißt mit allem, was dazugehört: Farbstoffe, Aromastoffe, Konservierungsmittel.
„Und wonach schmeckt das?“
„Nach Himmelblau, wie denn sonst?“
„Naja, nach Erdbeeren oder Vanille oder wie?“
„Weiß nicht.“
„O. k., ein Bällchen Himmelblau und dann?“
„Nein 3 Bällchen!“
„Mit Sahne?“
„Neeeeiiiiiin!“ Lachen. “Ohne natürlich!“
„Aha, und was nehm ich? …………Oh, ganz einfach, ein Spaghetti-Eis!“
„Gut! Krieg ich was ab?“
„Ja, gerne, den Käse.“
„Den Käse! Du bist komisch.“
Sie essen ihr Eis, sie teilen. Simon muss zugeben, dass Himmelblau toll aussieht. Und wenn man die Augen zumacht, schmeckt es einfach nach Sahneeis und ein bisschen Vanille, eigentlich nach nicht viel. Aber wenn man hinschaut, schmeckt es eindeutig nach Himmel. Aber auch der Käse ist nicht schlecht.
Sie zahlen und spazieren nach Hause, jetzt ist es nicht mehr weit. Als sie zu Hause ankommen, hat Simon noch eine Idee. Komm wir gehen noch in meinen Bus, Du fährst mich, o. k.?
„Jaaaa!“ Das will Lara schon, seit sie bei Opa ist. Der VW-Bus steht immer vor dem Haus und sie ist schon oft damit gefahren, aber nie selbst. Dafür wird es Zeit!
Lara steigt auf den Fahrersitz und packt das Lenkrad. Simon klettert durch die Schiebtür nach hinten und legt sich auf die Rückbank. Lara dreht an dem Lenkrad, das sich kaum bewegt, brummt und japst undefinierbar, hopst auf und ab. Es gibt ja auch noch Blinker und Tasten. Alles gerät in Bewegung, auch wenn Simon die Zündschlüssel behalten hat. Er fühlt sich wohl dahinten. Er sitzt ja ganz selten da. Und ins Haus will er nicht. Er hört Lara zu und erinnert sich daran, wie er in dem alten Bus mit Florian und seiner Mutter nach Südfrankreich gefahren ist. Sie haben alle drei hinten im Bus geschlafen. Sitze gab es keine. Sie hatten sie ausgebaut und schliefen auf einem Futon auf dem Boden. Man hatte eine wunderbare Sicht durch alle Fenster. Tagsüber sah man die Bäume, nachts die Sterne. Sie hatten allen Platz der Welt, so geborgen hat er sich in seinem Leben nicht oft gefühlt.
„Wo fährst Du denn hin?“ ruft er nach vorne.
Lara dreht sich um den großen Sitz herum, schaut zu ihm und ruft, lauter als notwendig:
„Ich bin noch gar nicht weggefahren!“
Simon lacht:
„Ach so!“
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