Erinnerungen
Als Junge verbrachte ich, Ende der 50erJahre, meine Sommerferien mit Düsseldorfer Jugendlichen in einem Zeltlager im sauerländischen Ennepetal und sang, während der langweiligen Mittagszeit oft in meinem Zelt, was mir den Spitznamen „Heulboje“ einbrachte (Musik wird störend auch empfunden, dieweil sie mit Geräusch verbunden, Wilhelm Busch).
Einige Jahre später geriet ich in eine Kirche in Kierspe, auch im Sauerland, wo Blechbläser eine mehrchörige Intrade von Giovanni Gabrieli (venezianischer Komponist und Kirchenmusiker, geboren 1557 in Venedig; gestorben 1612) probten. Kleine Gruppen von Instrumentalisten spielten sich von verschiedenen Emporen aus zu und dieser metallen strahlende Blechklang der Trompeten, Posaunen, Hörner, Tuben erfüllten den ganzen Raum mit üppig überbordendem Klang. Echos wurden hin und her geworfen; eine jubelnde Klangpracht, Spiellust und harmonische Schönheit entrückten mich in eine Sphäre der Glückseligkeit. Ich war überwältigt. So etwas wollte ich auch machen. Ich lernte Trompete.
Musik und Räume
Diese strahlende Musik der Renaissance zu erleben war auch eine körperlich-räumliche Erfahrung. Die Akustik des Raumes, diese körperliche Klangpracht, die Symbiose von Harmonie, Melodie und Architektur, diese klangliche Intensität, aber auch die kirchliche Architektur und die Stimmung, etc. wirkten auf die Musiker, wie das Publikum. Genau damit hatten sich diese Renaissancemeister lange beschäftigt, wussten wie man Überwältigungsmusik komponiert und aufführt.
Komponisten schreiben oft im Wissen über die Eigenschaften des Raumes, in dem musiziert werden wird. Musik hat nicht selten ihre typischen Räume (Kirche, Jazzclubs, Philharmonien, Bierzelte, Diskotheken, Fußballstadien, „Kammer“-Musik, etc.).
Diese italienischen Meister der Renaissance (Claudio Merulo, Giovanni und Andrea Gabrieli, Claudio Montverdi etc.) nutzen für ihre mehrchörige Musik die architektonischen Möglichkeiten der großen Dome, z.b. in Venedig, Mailand, Neapel oder Rom und verteilten verschiedene Instrumentengruppen und Sänger auf Emporen, Balkone im ganzen Kirchenraum.
Dieser Weitung des Raumes entspricht die raumumspannende Dynamik mehrchöriger Musik. und deren Instrumentalisten. Der Zuhörer, aber auch die Aufführenden werden vom Spiel im Raum verteilter Klangkörper umfangen, eingehüllt, verzaubert und entführt. Man fühlt sich untereinander und auch den Komponisten, Sängern, Instrumentalisten, Menschen dieser vergangenen Zeit verbunden, vielleicht auch dem Himmel und seinen Bewohnern, zu dem und von dem diese Musik ja kündet.
Solches und Ähnliche erleben Hörer im Reich der Musik und dies ist keineswegs begrenzt auf die lange vergangene Epoche venezianischer Mehrchörigkeit. Verbindende Zeitlosigkeit ist eine Dimension in Klangwelten.
Die dänische Schriftstellerin Inger Christensen hörte 1967 drei Wochen lang Tag und Nacht, während sie an einem Liebesroman über Sprache und Verführung schrieb, Schuberts Streichquartett C -Dur op. 163, was man fast verstehen kann, wenn man diese Musik hört. Sie ging nicht aus, nahm kein Telefon ab, lebte nur von dem was gerade im Kühlschrank war. Saß also eingeschlossen in Schuberts Klangglocke. Die Musik, schreibt sie in Erinnerung an diese Erfahrung,
„Die Musik ist die ganze Zeit da, aber nur manchmal zwischendurch hört man sie. Und wiederum nur ein seltenes Mal wird man unvorbereitet von ihr ergriffen und zu Orten geführt, wo die Zeit in einen Raum verwandelt wird, in einen geistigen Raum, in dem die Musik zugleich wie eine Selbstverständlichkeit den Raum einrichtet, in dem man sich physisch befindet, so daß man niemals, wenn man später dieselbe Musik hört, umhin kann, sich an den Ort zu erinnern, wo man sie das erste Mal unvermuteterweise gehört hat.“ Inger Christensen: Sich selber sehen möchte die Welt; Verlag Kleinheinrich, 2022, S. 353)
Musik als gemeinsames Fest
Klangvorstellungen aus der Phantasie des Komponisten, in seiner Zeit, das Handwerk der Musiker und das Mitschwingen der Hörer, schaffen gemeinsam einen musikalischen Sinnzusammenhang. Nur dann erklingt eigentlich Musik.
Musik machen und hören ist zunächst etwas Sinnliches. Das ist nicht nur sprachlich verwandt mit unseren „Sinnen“ und mit „Sinn“.
Musizieren ist ein gemeinsames, sinnstiftendes „Spiel“ von Musik komponieren, machen und miterleben. Zwar kann Musik, z.B. als Notenwerk, oder auf Tonträger dokumentiert sein, doch nur gemeinsam kommt Musik für unsere Sinne in die Welt. Solches Musizieren, hören, spüren, mitgehen, tanzen, applaudieren, johlen inszeniert gemeinsames Feiern.
Musik ist der dynamische Kern des „Festes“ und die gemeinsame Feier ist das Herz von Musik.
In vielen (vormodernen, und nicht nur dort) Kulturen brauchte es drei Trommeln, etwas Gutes zum Rauchen oder Trinken und schon ging die Post ab. Vielleicht ist das etwas Archaisches, ja fast animalisches? Manchmal über Stunden verlieren sich alle miteinander in gemeinsamer Melodie, Klang, Harmonie und Rhythmik. Bewegung, Ekstase, Schweiß, Stampfen und Singen, Berührung, Die Erfahrung einer kollektiven vibrierenden Energie und – manchmal, vielleicht – geradezu heiliger Verbundenheit.
Dieses Phänomen begegnet auch in ganz anderen musikalischen Kontexten:
„Die Clubcultur Berlins und vor allem der besondere Raum, den das Berghain einnimmt sind mehr als nur technoide Rhythmen und menschliche Körper, die sich in unendlicher Ektase verlieren…
Es sind eben nicht nur die Bässe, die durch den Raum vibrieren, es ist nicht nur der Klang, der im Dunklen schwebt. Es ist das Gefühl der Zugehörigkeit, das plötzlich aufkommt. ..Manchmal ist das Berghain wie eine Art Altar. Eine heilige Stätte für all diejenigen, die sich nach einem Ort sehnen, an dem die Zeit stille steht. Es ist ein Portal, das du betrittst, um zu fliegen – nicht nur körperlich, sondern auch geistig. Es ist eine Katharsis vom Alltag. Es geht darum, alles hinter sich zu lassen. Für Stunden, für Tage vielleicht. Ein Club ist mehr als ein Raum, er ist ein Zustand. Der wahre Einfluss des Berghain liegt nicht nur in seiner Musik, sondern in seiner Fähigkeit, die Zeit und den Raum zu transformieren.“
(Max Renner, Techno-Enthusiast und „Berghain-Regulator“ in FAZ, 14. Dez. 2024, S. 8).
Diese Formen der Musikerfahrung sind sicher anders als „achtsam Musik hören“. Gleichwohl wird hier ein Moment besonders deutlich, das zur nüchternen Bewusstheit in Spannung steht und doch wesentliches Element von Musik hören sein kann: eine entrückte Faszination, Ekstase, die in Trance übergehen kann.
Für die unzeitgemäße Erfahrung des Heiligen ist dieses Element des Faszinosum konstitutiv. In diesem Kontext ist es nicht in einem dogmatisch korrekten Sinne als Eigenschaft Gottes zu sehen. Versteht man in einer Zeit, in der es auch eine Theologie nach dem Tode Gottes gibt, das Heilige als Geheimnis der Welt (E. Jüngel: Gott als Geheimnis der Welt, Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus; J.C.B. Mohr Tübingen 1992), könnte die Trance ein Teil dieses Geheimnisses sein. [1] Ganz sicher ist Musik hören und dazu tanzen bis in die Trance hinein ein wichtiges Element mystischer Religiosität.
Es gibt einen arabischen, im Grunde unübersetzbaren Begriff, der dieses Gefühl beschreibt: Tarab. Er bezieht sich auf die Fähigkeit, von Musik (aber eben auch des Hörers mit der Musik) tief bewegt und emotional mitgerissen zu werden. „Tarab“ könnte man wohl am ehesten als ‚Verzauberung‘ übersetzen, auch im Sinne von Ekstase. Unbewusstes, Unwillkürliches führt Regie; das Fest findet in der Dämmerung statt, „the dark side oft he moon“ das, was wir nur verschwommen zu Gesicht bekommen berührt und verbindet. Musik und Hörer bewegen sich in einer dunkel-bunten Welt von Rhythmen, Klangfärbungen, Melodien, Frequenzen und Lautstärken. Im Meer sinnlichen Miteinanders treiben Hörer in Wellen akustischer Erfahrung.
„Die Musik“, lässt Joseph Roth den Maler Ernst seiner Geliebten Fini erklären, „enthält alle Geräusche der menschlichen Welt, eingefangen in gesetzmäßige Bindung und gesteigert ins Übermenschliche“ (Joseph Roth, der blinde Spiegel).
Verschwindende Klangmalerei
„wenn du auslöschst Sinn und Ton, was hörst Du dann?“
(Koan aus der buddhistischen ZEN-Praxis)
Kurz nachdem die Musik erklingt ist sie bereits verschwunden. Stille ist wesentliches Element von Musik; vielleicht die zarteste Klangfarbe, doch von unüberhörbarer Deutlichkeit.
Diese Stille verschwindet – anders als die Musik – nicht, ein Nichts kann nicht so verschwinden, sie endet irgendwann.
Hölzer habe ihre Klänge, gepolsterte Hämmerchen schlagen auf dünne und dicke Metallsaiten, Pferdehaare bringen Därme zum Singen, geflochtene Tierdärme schwingen über kunstvollen Holzskulpturen von der Größe eins Männerschuhs bis zur Größe eines Küchenschranks. Pfeifen aus verschiedenen Metallen, Hölzern, gespannte Tierhäute, menschliche Stimmbänder. Doch auch die Welten der Elektronen, elektromagnetische Wellen, Elektronik bergen unendliche Klänge, die über Generatoren hörbar gemacht werden.
Die Berührungen und Schläge zwischen Holzknüppeln und gespanten Tierhäuten, zwischen Metallplättchen und Holzschlegeln, das Vorbeistreifen der Luft an Spalten, Röhrchen, Schlitzen, Löchern, Kesseln; die Modulationen von Transistoren, Röhren. Elektroakustische Experimente, all ‘das schafft Klang, Musik, Sound.
Diese Klänge wirken auf den Hörer ganz unterschiedlich: wir erleben sie manchmal lustig, neutral, fremd oder wunderschön, traurig, aggressiv oder fröhlich, entrückt und einzigartig und sie bilden irgendwie eine Einheit mit unserem Ohr.
Ich kenne Menschen, die gegen bestimmte Instrumente Aversionen haben (Vibraphone, Mozart verabscheute Trompetenklänge, Saxophon).
In den Tiefen des Meeres singen Wale, in den Gipfeln der Bäume und der Lüfte singen ganz unterschiedliche Vögel zueinander und manche von Ihnen nehmen neue Melodien aus der Klangwelt der Menschen in ihre Lieder auf.
Hunde bellen, Kühe muhen, im blühenden Efeu am Birnbaum summen tausende Insekten ein großes Lied von Leben und Vergänglichkeit. Man kann darüber streiten, ob diese Klänge der Natur auch Musik sind?
Das Auge führt den Menschen in die Welt, das Ohr führt die Welt in den Menschen
Lorenz Oken
Musik ist klanglich gestaltete Zeit. Der Musikkritiker Eduard Hanslinck hat als Definition gegeben:
„Tönend bewegte Formen sind einzig und allein Inhalt und Gegenstand der Musik“
Instrumente werden gespielt und bespielt, Mütter singen ihre Babys in den Schlaf und beruhigen oder belustigen sie mit kleinen Liedern. Ein Jazzquintett reißt die Hörer von den Sitzen, Feste, Jubiläen, Partys, Gottesdienste sind umrahmt und geprägt von Musik, Discos, Clubs, Konzertsäle sind Musikräume.
Doch, ohne Stille, keine Musik:
Musik am Rande der Stille
Morton Feldman: „Rothko Chapel“
Ich habe diese Musik an einem Abend im Staatstheater Darmstadt gehört, nach dem „Requiem für einen jungen Dichter“ von B.A. Zimmermann. Zwei extrem unterschiedliche Hörerfahrungen.
Feldman hat diese Musik 1975 komponiert. Anlass war die Einweihung einer kleinen, achteckigen, überkonfessionellen Meditationskapelle in Texas. Dort hatte der Maler Mark Rothko 12 großformatige dunkel-monochrome Gemälde aufgehängt, die den Charakter der fensterlosen Kapelle prägen.
Es erklingen wenige Instrumente: Schlagwerk, Celesta (Klaviertastatur, klingt ähnlich einem Glockenspiel, doch sanfter), Viola, eine Sopranistin, ein Chor.
Miteinander kombiniert in „Rothko chapel“ werden meistens:
Viola und Pauken
Pauken und Basstrommel
Viola solo
Viola, Celesta, Vibraphone
Chor und Glockenspiel
Chor, Pauke und Basstrommel
Feldmans kompositorisches Ideal war es, den sound wahrzunehmen, also den genauen Klang der Instrumente und nicht komplexe, musikalische Ideen des Komponisten.
So bestimmen wenige Instrumente und deren spezifischer Klang und wenige Instrumentalkombinationen das ca. 30-minütige Stück, das überwiegend im p, pp, ppp notiert ist. Pausen sind wichtiger Teil der Komposition.
Feldman nutzt diese Instrumentalkombinationen, um den Zuhörer so genau und intensiv wie möglich die jeweiligen Instrumente, Instrumentalkombinationen und deren Klangfarben wahrnehmen zu lassen. Deswegen exponiert sich auch kein Solist, obwohl oft Einzelne spielen. Eine egalitäre, dienende Haltung, in der jeder Künstler ganz hinter sein Instrument und dessen Klangfarbe zurücktritt, prägt die Atmosphäre.
[1] Der Religionswissenschaftler Rudolf Otto, der den gründlichsten Beitrag zum Begriff des Heiligen geleistet hat, war besonders interessiert an religionspsychologischen Fragen und der Erfahrung der Mystik in unterschiedlichen Religionen, insbesondere der islamischen und hinduistischen Mystik. Besonders interessierte ihn da Verhältnis des rationalen zum irrationalen in der Idee des Göttlichen.
Schreibe einen Kommentar