Ohren auf! Achtsamkeit in Musik und im Alltag der Klänge und Geräusche (Teil 3)

Musik, Tod und die ewige Ruhe

Das Om und das Mu, das Amen, das Hallelujah und Kyrieeleison, sind Mantras, klingende Beschwörungen des Erhabenen. Die Gesänge des Muezzin sind Gebete und Einladungen zum Gebet, wie die ekstatischen Drehtänze der Suffis getanzte Gebete.
In den großen Meditationstraditionen des Buddhismus spielen Meditationen über den Tod, Verlust, die körperliche Verwesung, in all` ihren konkreten Details, eine wichtige Rolle.
Buddha beschreibt im Satipatthana-Sutta wie man Achtsamkeit üben soll: Ununterbrochen, im Gehen, Stehen, Liegen, Sitzen. Als besonders wirksames Hilfsmittel der Achtsamkeitspraxis nennt er die Kontemplation der eigenen Sterblichkeit in den neun verschiedenen Stadien der Verwesung.
Diese Bedeutung des Bewusstsein von Sterblichkeit gilt – in ganz anderer Weise-  auch für die jüdisch-christliche Tradition:

Psalm 90, ein Klagelied des Moses
… Denn tausend Jahre sind vor dir / wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache. 5 Du lässest sie dahinfahren wie einen Strom, / sie sind wie ein Schlaf, wie ein Gras, das am Morgen noch sprosst, 6 das am Morgen blüht und sprosst und des Abends welkt und verdorrt. …9 Darum fahren alle unsre Tage dahin durch deinen Zorn, wir bringen unsre Jahre zu wie ein Geschwätz. 10 Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und was daran köstlich scheint, ist doch nur vergebliche Mühe;[1] denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon. 11 Wer glaubt’s aber, dass du so sehr zürnest, und wer fürchtet sich vor dir in deinem Grimm? 12 Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.

Die Erfahrung des Verlustes, des Verschwindens, der permanenten Veränderung ist Teil achtsamer Haltung und in Musik kann diese Erfahrung intensiv spürbar werden.

„Musik, das ist, durch das Leben zu reisen, ohne etwas zu zerstören. Ein Wind zu sein, der nicht weiß, woher er kommt und wohin er zieht. Das ist Musik.
Woher kommt die Musik? Aus der Seele?
Aber was ist die Seele? Oder kommt sie aus diesem kleinen Musikinstrument?
Und falls sie aus diesem Instrument kommt, was ist dann unsere Rolle in diesem Spiel?
Warum werden die Musiker nicht Musik?
Warum werden sie, wenn sie gespielt haben nicht zu einem weißen Rauchfaden, der zu den Sternen aufsteigt?
Warum gleitet die Musik davon und die Musiker bleiben erschöpft zurück?
Und warum sterben wir und gehen fort, während die Musik durch einen anderen Musiker auf die Erde zurückkehrt?
Wo war sie in der Zwischenzeit?“
Bachtiar Ali „Die Stadt der weißen Musiker“

Karl Barth, protestantischer Theologe, verehrte und liebte Mozart, räumte ihm sogar Platz ein in seiner kirchlichen Dogmatik.
Für diesen protestantischen Dogmatiker hatte Mozarts Musik etwas Göttliches. Ihre oft entrückte Klangseligkeit, ohne jede Sentimentalität, die Eleganz der thematischen Verbindungen, die traumhafte Beglückung der Melodien, die Evidenz einer engelhaften Schönheit, offenbaren etwas Heiliges.
Musik begegnet als Form lebendiger Kreativität, Kommunikation, die Begrenztheit einzelner Individuen überschreitet.
Damit berührt Musik eine religiöse-spirituelle Dimension.
Religion im Sinne, dass Vereinzelung überwunden und das subjektive Sein zurück gebunden wird an einen allgemeinen, wenn auch geheimnisvollen Sinn und etwas wesenhaftes menschlicher Existenz.
Mozarts letztes, unvollendetes Werk ist sein Requiem.

Musik entsteht in und aus einer langen Geschichte musikalischer Formen. Solche Formen sind z.B. die 4- und12-taktigen Einheiten eines Jazzstandards und vieler Lieder, Spirituals, Kanon und Choräle, Fugen, Sonaten, Streichquartette und Symphonien, Kantaten, Motetten. Viele dieser Formen haben eine geistlich-religiöse Tradition.

Im Zusammenhang des Themas Tod, Sterben, ewige Ruhe stellt das Requiem, die Form der katholischen Totenmesse, einen Rahmen bereit, den bis heute Komponisten nutzen, wenn sie sich mit diesem großen Thema musikalisch auseinandersetzen wollen. Das Requiem ist das Anfangswort des Eingangschores der lateinischen Totenmesse „Die ewige Ruh gib Ihnen, Herr“. Seine Geschichte beginnt im 15.Jahrhundert und sie reicht bis ins 20.

Die Auseinandersetzung mit Krieg, Zerstörung und der Sehnsucht nach Frieden prägt zwei wichtige Requiem-Kompositionen des 20. Jahrhunderts:
Benjamin Britten vereinte Wilfried Owens Gedichte und den lateinischen Messetext zur Totenmesse eines „War Requiems“.
Dunkel, abgründig – so beginnt Benjamin Brittens „War Requiem“, das Weltkriegsoratorium. Diese Komposition für Orchester, Chöre, drei Gesangssolisten und Orgel gilt der Erinnerung an den von Nazi-Deutschland verübten Bombenangriff auf die britische Stadt Coventry, 150 Kilometer nordwestlich von London, am 14. November, wo dieses Requiem 1962 auch uraufgeführt wurde:

Hymne für die todgeweihte Jugend 
Was für ein Totengeläut für die, die sterben wie Vieh?
Nur die scheußliche Wut der Geschütze.
Nur der stotternden Gewehre rasendes Rattern
Kann sie herausplappern, ihre hastigen Gebete.
Keine Spöttereien für sie; weder Gebete noch Glocken,
Noch eine Stimme der Trauer außer den Chören.
Die schrillen, hirnlosen Chöre von jaulenden Granaten;
Und Hörner, die aus trauernden Grafschaften rufen
Wilfred Owen

Bernd Alois Zimmermann: Requiem für einen jungen Dichter. Lingual für Sprecher, Sopran- und bass-Solo, Drei Chöre, Orchester, Jazz-combo, Orgel und elektronische Klänge nach Texten verschiedener Dichter, Berichte und Reportagen (1967-1969). Im Mittelpunkt stehen weniger die Dichter, die ihrem Leben selbst ein Ende setzten (Majakowski, Sergey Jessenin und Konrad Bayer), als eine gesellschaftliche Situation, an der alle Menschen teilhaben. Die drei „jungen Dichter“ sind als Repräsentanten der Gesellschaft deshalb hervorgehoben, weil sie die Situation in besonderer Weise analysierten und in radikaler Weise darauf reagierten. Die Friedensbitte in Zimmermanns Werk aber bezieht sich nicht nur auf sie, sondern auf alle Menschen, insbesondere die noch Lebenden. In diesem Werk vereinigen sich Formen der Kantate und des Oratoriums mit jenen des Hörspiels, des Features und der Reportage. In der Weltkriegs-Bandmontage des Requiem für einen jungen Dichter rückt Zimmermann dann eine der größten Katastrophen der Menschheitsgeschichte, den 2. Weltkrieg und dessen politisches, kulturelles, propagandistisches und literarisches Umfeld in den Mittelpunkt, als ein „Beispiel durchrationalisierten Grauens“. Der gewaltige Aufschrei in Schlusssatz (con tutta forza): Dona nobis pacem, Gib uns Frieden! klingt so überwältigend wie vergeblich. Ich habe das Werk bereits dreimal gehört und es überfordert mich jedes Mal. Eine Überforderung, die nicht nur dieser Musik, seinem Komponisten, sondern auch der apokalyptischen Finsternis geschuldet ist, die dieses Werk und seine Musik verdunkelt. Er selbst hat seinem Leben zwei Jahre nach der Aufführung ein Ende gesetzt ( siehe dazu auch: Oliver Korte, Subjekt und Gewalt in: Welt – Zeit – Theater und Bettina Zimmermann: Con tutta forza. Bern Alois Zimmermann. Ein persönliches Portrait).

Gelegentlich spreche ich mit älteren Freunden über deren Musikwünsche anlässlich ihrer eigenen, demnächst irgendwann zu erwartenden Trauerfeier.
Ich habe auch selbst schon darüber nachgedacht.
Als mein frommer Vater vor 15 Jahren verstarb, hatte er den Text der Traueranzeigen und auch den Ablauf des Begräbnisgottesdienstes, einschließlich aller Lieder, genau geplant und schriftlich festgehalten. Gemeinde und Angehörige waren überrascht, dass unter den Liedern auch der Choral: „Nun bitten wir den heiligen Geist“ war, der in der baptistischen Gemeinde, zu der mein Vater gehörte, unüblich ist und weder in deren Gesangbuch steht, noch allgemein bekannt ist.
Ich war überrascht und erfreut, dass mein Vater diesen wunderbaren Choral gewählt hatte, empfand das in dieser evangelikalen Enge als ökumenische Offenheit und sang stolz und allein für ihn diese so schlichte wie bewegende Melodie mit dem tröstenden Text:

Nun bitten wir den heiligen Geist
Um den rechten Glauben allermeist,
dass er uns behüte
an unserm Ende
wenn wir heimfahrn
aus diesem Elende,
Kyrieleis.

Unter Anlehnung an die große griechische Tragödie schreibt die Autorin Valzhyna Mort aus Belarus eine poetisch-musikalische Depesche, an Antigone, die deren Stationen im Kampf um die Würde des toten Bruders als Sätze einer Symphonie benennt:

allegro  die Polizei verjagen
adagio  den Körper waschen
scherzo  leise lachen und weinen
rondo  den Toten mit Erde bedecken

Antigone,
mit Blick auf die toten ist alles klar,
Doch was uns Lebende betrifft:
Nimm mich als Schwester.
Aus: Valzhyna Mort, Musik für Tote und Auferstandene, Gedichte

Am 31. August 2014 starb ganz überraschend meine Frau Dagmar, mit 58 Jahren, während unseres Urlaubs in Devon, Südengland.
Nach missglückter Operation eines Hirnaneurysma lag sie eine Woche lang im
Koma. Gemeinsam mit unserem Sohn und Ihrer Schwester haben wir ihr Lieder gesungen, bis sie starb:

Drei Tage und Nächte haben wir Deinen Atem gehört
in den Sterbekampf hinein
Dir Gesungen:

Wenn ich ein Vöglein wär
Wach auf meins Herzens Schöne

Wenn sich der Tag geendet hat

Mit Lieb bin ich umfangen.
Hüt `Dich schöns Blümelein.


Die letzten zwei Lebensjahre besuchte ich meine Mutter öfter in einem Pflegeheim im Sauerland. Es war eine kleine familienähnliche Gruppe, fast nur Frauen, in unterschiedlichen Stadien der Demenz. Ich war sehr überrascht wie genau diese alten Frauen, die oft ihre eigenen Kinder nicht mehr erkannten, beim Singen, neben der genauen Melodie, die Text aller Strophen erinnerten und mitsangen. Früh und tief prägen uns Gebete. Melodien, Lieder, Songs schwingen im Unbewussten. Momente und Erinnerungen unseres Lebens, deren „sound“ und Farben unvergesslich sind.

Der Journalist und Autor Stefan Weiler hat seit 2009 über 100 Menschen im Hospiz getroffen, die ihm kurz vorm Lebensende von ihrem Leben, dem bevorstehenden Tod und von der Musik ihres Lebens erzählt haben Eine Frau erzählt:

„Wenn ich nicht schlafen kann, singe ich mir selbst Lieder vor. Vor einiger Zeit hörte ich Helene Fischer mit einem Weihnachtslied, das ich fast vergessen hatte: “Maria durch ein` Dornwald ging,“

„Maria durch ein Dornwald ging, der hatt` in sieben Jahr`n kein Laub getragen.“ Ich versteh das Bild so gut. Es geht mir nicht aus dem Kopf. Es wird wohl niemand zu meiner Beerdigung kommen, aber das wäre mein Lied:

Maria durch ein Dornwald ging,
Der hatte in sieben Jahr`n kein Laub getragen!
Was trug Maria unter ihrem Herzen?
Ein kleines Kindlein ohne Schmerzen.
Das trug Maria unter ihrem Herzen.
Da haben die Dornen Rosen getragen;
Kyrieleison!
(Stefan Weil: Letzte Lieder. Sterbende erzählen von der Musik ihres Lebens, Hamburg, Edelbooks 2019)

Vor wenigen Wochen starb ein guter Freund und Mitsänger, Andreas, aus unserem Gesangsquintett „die Praktikanten“.
Er hatte lange gekämpft; dann ging es zu Ende und er lag müde und erschöpft, begleitet von seiner Familie im Hospizbett.
Wir vier zurückbleibenden Sänger der Gruppe hatten drei Lieder ausgewählt, die wir für ihn am Sterbebett sangen.
Es war ein Moment voller Traurigkeit und voller Ruhe, Andreas sang lautlos mit und dieser Moment war offen, frei, traurig und friedlich.

Musik kann, auch im Schmerz, eine große Ruhe, Frieden und Klarheit schenken, die präsent und gegenwärtig ist.

Ihre Wahrheit ist, uns die Konflikte um uns und vor Allem in uns zu zeigen
und sanft einen anderen Weg zu weisen,
ohne jeden Dogmatismus, ohne Rechthaberei und Überredung.
Sie stellt der Hässlichkeit, der Bosheit, dem Hass
Die Schönheit, Großmut und Freude gegenüber.
Sie ist irgendwie nicht nur von dieser Welt, sondern verweist auch auf eine Bessere. Auch wenn sie missbraucht wird für Lüge und Täuschung (auch die Henker singen), behält sie unter den schmutzigen Gewändern, ihre Schönheit.
Jeder Gesang und die Stille danach, erinnern an eine Welt des Friedens, der Humanität.

Pablo Neruda nannte sein gewaltiges Versepos „Der große Gesang“
Gespeist wurden diese Lieder aus den versunkenen Traditionen der Inkas, Mayas, Azteken.
Der „Große Gesang“ ist so auch Ermutigung in einem Befreiungskampf, der nie endet.
Seine Melodie können wir heraushören aus dem Lärm einer verstümmelten Welt, mitsingen oder hinhören, Ruhe finden, auf andere Weise verstehen und lernen.

Ja, das ist Poesie, keine Musik.
Doch Poesie und Musik berühren sich immer wieder und , achtsam gehört, schenken sie uns manchmal Empfangsbereitschaft im Jetzt,
absichtslose, offene Akzeptanz, eben Haltung der Achtsamkeit.

Versuch`s, die verstümmelte Welt zu besingen
Versuch´s, die verstümmelte Welt zu besingen.
Denke an die langen Junitage,
und an die Erdbeeren, die Tropfen des Weins rose´.
An Brennnesseln, die methodisch verlassene
Gehöfte der Vertriebenen überwucherten.
Du musst die verstümmelte Welt besingen.
Du hattest die eleganten Jachten und Schiffe betrachtet;
eines davon hatte eine lange Reise vor sich,
ein anderes erwartete nur ein salziges Nichts.
Du hast die Flüchtlinge gesehen, die nirgendwohin gingen.
Du hast die Henker gehört, die fröhlich sangen.
Du solltest die verstümmelte Welt besingen.
Denke an die Augenblicke, als ihr beisammen wart
in dem weißen Zimmer und die Gardine sich bewegte.
Erinnere dich an das Konzert, als die Musik explodierte.
Im Herbst sammelst Du Eicheln im Park
und die Blätter wirbelten über den Narben der Erde.
Besinge die verstümmelte Welt
und die graue Feder, die die Drossel verlor,
und das sanfte Licht, das umherschweift und verschwindet
und wiederkehrt.
Adam Zagajewski, aus dem Polnischen von Karl Dedecius

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