Dichte Begriffe (I)

„Dichte Begriffe“ ist ein Begriff aus der Philosophie („thick concepts“, Bernard Williams), der zur Klärung vieler, auch alltagsnaher Probleme des Denkens und Fühlens beiträgt. Solche Begriffe, haben die Eigenart, dass sie gleichzeitig Beschreibungen und Bewertungen sind und beides sich nicht voneinander trennen lässt, ohne dass der Begriff seine spezifische Bedeutung verliert. Beispiele sind „Grausamkeit“, „Großzügigkeit“, „Freundlichkeit“, „Freiheit“ und viele andere. Dazu gehören auch die entsprechenden Adjektive „grausam“, „großzügig“, „freundlich“, „hilfsbereit“ usw., die ein Verhalten beschreiben. Dichte Begriffe sind kontextuell und natürlich kulturabhängig. Bei manchen tritt dies im Laufe ihrer Geschichte deutlich zu Tage, bei anderen nie.

Dichte Begriffe sind ein Beispiel dafür, dass eine Trennung von Beschreibung und Bewertung – anders als es oft in Achtsamkeitsprogrammen gelehrt wird – manchmal weder sinnvoll noch möglich ist.

Nun gibt es Begriffe, die nur scheinbar „dicht“ sind, weil sich sehr schnell ihre bewertende Komponente als inszeniert durchschauen und auch ohne wesentlichen Verlust historisieren oder eliminieren lässt. Man könnte sie „pseudodicht“ nennen. Ein bekanntes Beispiel ist die Verkehrung des Sinns in den Bezeichnungen „Arbeitnehmer“ und „Arbeitgeber“. In ähnlicher Weise suggeriert „Bürgergeld“ Aufstieg (vom „Arbeitslosen“ zum „Bürger“), versucht „soziale Marktwirtschaft“ Widersprüche zu verschleiern. „Schutzstaffel“ (SS) wird nur noch historisch gebraucht, die „Lebensversicherung“ ist eigentlich eine Versicherung gegen einige Folgen des Todes und „Reservat“ ist ein durchschaubarer Versuch, den Völkermord zu verharmlosen. Begriffe können in diesem Sinne euphemistisch, aber auch implizit abwertend („Bürokratie“, „Tourist“, „Prostitution“, „Seitensprung“, „Einzelkind“, „radikal“) oder umstritten sein („Zigeuner“ im Deutschen). Aber sie können leicht ersetzt werden, ohne dass dies ihre beschreibende Komponente beeinträchtigt. Im Gegenteil, die Beschreibung wird eher gestärkt. So könnte man auch, um bei den oben genannten Beispielen zu bleiben, manche dieser pseudodichten Begriffe ohne Verlust ersetzen: „Unternehmer“ und „Mitarbeiter“ oder „Grundsicherung“. 

Am Interessantesten finde ich aber die Begriffe, die zwar dicht sind, aber bei denen man auf den zweiten Blick über die ein oder andere Bewertung uneins sein kann oder bei denen man sieht, dass ihre Bewertung kontextabhängig ist. Das betrifft Worte wie „Natur“, „Achtsamkeit“, „Friede“, „Empathie“ oder „Liebe“. Bei diesen Beispielen kann die Bewertung, die die Anmutung des Begriffs ausmacht, bezweifelt werden, ohne dass der Begriff vollständig seine Bedeutung verliert. Die Bedeutung wird nur komplexer und problematischer. „Natur“ lässt sich zwar als Gegenpol zur „Kultur“ definieren – als das, was von kulturellen und technischen Entwicklungen wenig beeinflusst ist. Würden wir damit aber jede Bewertung entfernen, würden wir uns auch von der Bedeutung entfernen, die das Wort für die meisten Menschen hat. Auch wenn wir auf die gefährlichen Aspekte der Natur hinweisen würden, würden wir damit die anderen positiv bewertenden Konnotationen nicht entfernen. Ähnlich ist es mit „Empathie“. Normalerweise verbinden Menschen diesen Begriff mit einer positiven Bewertung. Erst eine sorgfältige kritische Betrachtung deckt auf, dass Empathie nicht immer positiv sein muss, z.B. weil sie zur Privilegierung von Menschen verführt, die einem nahe stehen, weil sie sadistisch, zur Machtausübung oder in erster Linie zur eigenen Belebung („empathischer Vampirismus“) dient.[1] Auch „Empathie“ lässt sich also problematisieren, indem wir genauer hinschauen und den Begriff kontextualisieren. „Achtsamkeit“ ist auch ein solcher Fall. Das deutsche Wort lebt mehr als die französische Bezeichnung „pleine conscience“ oder das englische „Mindfulness“ von den traditionell positiven Konnotationen des „achten auf“ im Sinne der Sorgsamkeit für etwas, das wir wertschätzen und des Respekts: „etwas achten“. Aber es lassen sich wie bei der Empathie auch problematische Aspekte der Achtsamkeit finden und je nach Kontext und Perspektive variiert der Klang und die Bedeutung des Wortes inzwischen bis ins Verächtliche. Analysen dichter Begriffe können nicht dazu dienen, die Bewertungen von den Beschreibungen zu trennen. Dichte Begriffe, auch solche, die „relativ“, weil sichtbar kontextuell, sind, sind prinzipiell unverzichtbar, weil wir die Welt durch sie hindurch erleben. Aber das bedeutet nicht, dass dichte Begriffe nicht kritisch betrachtet werden können. Sinn macht diese Betrachtung dort, wo sie Verwirrung stiften, etwas verschleiern oder Lebensformen als selbstverständlich behandeln, die im Hinblick auf andere, vielleicht wesentlichere Werte, die wir vertreten, problematisch sind. Das möchte ich in weiteren Blogs an einigen Beispielen zeigen.


[1] F. Breithaupt, Die dunklen Seiten der Empathie. Frankfurt a. M. 2017

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