Der 1. Satz von Mahlers 2. Sinfonie dauert mehr als 20 Minuten. Man bezeichnet ihn als „Totenfeier“. Er hat sein Gegenstück im letzten Satz, in dem Mahler ein Gedicht von Klopstock verarbeitet, dass die Auferstehung zum Thema hat. „Auferstehungssinfonie“ nennt man daher heute gerne das Gesamtwerk. Im letzten Satz treten zu dem gewaltigen Orchester ein Chor und zwei Solistinnen hinzu. Mahler hatte nach eigener Bekundung bei der Komposition des letzten Satzes seinen kurz zuvor verstorbenen Freund Max von Bülow im Sinne. Die Uraufführung 1895 blieb also seinem Freund erspart. Den 1. Satz hatte ihm Mahler noch am Klavier vorgetragen und wie er berichtete, sei von Bülow daraufhin in „nervöses Entsetzen“ geraten[1]. Mahler hatte sechs Jahre an dem Werk gearbeitet, nebenbei, er hatte als Dirigent viel zu tun.
Das Werk hat eine Besonderheit, auf die uns die Dramaturgin in ihrer Einführung hinwies. Mahler hatte nach dem Ende des 1. Satzes eine Pause von „mindestens 5 Minuten“ vorgesehen. 5 Minuten nur Stille. Diese Vorgabe muss viele Dirigenten und Dirigentinnen in Verlegenheit gebracht haben. Manche ignorierten sie, manche verkürzten sie, kaum jemand hielt sie ein. Die Dramaturgin meinte, sie sei gespannt, wie es die Dirigentin des heutigen Abends damit halten werde. Die 5 Minuten Stille schienen ein großes Thema zu sein. Tatsächlich wandte sich die Dirigentin, nachdem sie das Pult betreten hatte, an das Publikum. Das Werk enthalte eine Stille von 5 Minuten nach dem
1. Satz. Sie habe nachgedacht, wie sie damit umgehen könnte. Nun habe sie sich entschieden, sie als Schweigeminute für die Opfer der Invasion der russischen Armee in die Ukraine zu gestalten. Anerkennender Beifall. Und so geschah es. Salomonisch, politisch und moralisch integer, dachte ich. Und auch: Kann man einem Publikum heute keine 5 Minuten Stille nach einem Musikstück zumuten, wenn sie doch dem Komponisten wichtig waren. Das Werk dauert etwa 90 Minuten, es ist überbordend, voller Überraschungen, eigentlich eine Überforderung für Ohr, Herz und Verstand, wenn man es nicht schon gut kennt. Viele Passagen sind nicht leicht zu verarbeiten. Das Publikum weiß das, ahnt es zumindest, aber es lässt sich darauf ein. Aber die 5 Minuten Stille sind eine unerhörte Provokation.
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/2._Sinfonie_(Mahler)
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